Stipendium Plus
© Heidi Scherm. Quelle: sdw
© Heidi Scherm. Quelle: sdw

Denkraum und Diskursmaschine

Tobias Herzberg über soziale Labels und das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk

Mit sozialen Labels ist es ja so eine Sache, und eigentlich bin ich dagegen. Genauer: Ich bin dagegen, sie in Bezug auf Andere zu verwenden. Ich bin dagegen zu sagen: „Du bist lesbisch, er ist Muslim, ihr seid schwarz und die da sind Unterschicht.“ Ich bin dagegen zu fragen: „Bist du Iranerin oder bist du Deutsche?“ Oder zu fachsimpeln: „Du hast keine jüdische Mutter? Dann bist du ja gar kein richtiger Jude.“ Wenn jemandem eine Identität zugeschrieben wird, zwingt einen das, sich dazu zu verhalten. Man ist dann markiert als Mitglied (oder Nicht-Mitglied) einer Gruppe, die über religiöse, ethnisch-nationale, ökonomische oder sexuelle Parameter definiert wird. Man wird Minderheit – falls man nicht jenen Kriterien entspricht, aus denen sich gesellschaftliche „Normalität“ konstruiert. Und solange Minderheiten tagtäglich mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert sind, ist es anstrengend, ja zum Teil lebensgefährlich, Minderheit zu sein.
 

© Andreas Schlieter
© Andreas Schlieter

Man könnte jede Fremdzuschreibung ablehnen, und fertig. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen: „Was geht es die Welt an, woran ich glaube, wer meine Eltern sind, wo ich geboren bin oder mit wem ich schlafe?“ – Und jahrzehntelang war genau dies eine Haltung, die zumindest weißen Menschen ein weitgehend unbehelligtes Leben in der deutschen Öffentlichkeit ermöglicht hat. Allein: Diese Methode des Verschweigens, des Wegduckens, des Normal-sein-Wollens funktioniert nicht mehr. Und die knallharte Wahrheit lautet: Sie hat nie funktioniert. Antisemitismus wird nicht dadurch verschwinden, dass Juden in bestimmten Gegenden ihre Kippa in der Hosentasche verstauen. Und nicht jeder Mensch hat die Möglichkeit dazu, noch ist es überhaupt erstrebenswert, dem gesellschaftlichen Normalitätsdruck auch nur einen Millimeter nachzugeben! Ganz abgesehen davon, dass z.B. People of Color ihre Erscheinung nicht so einfach verschweigen können wie ich zum Beispiel meine jüdische Herkunft – die Zuschreibung ist stets schneller als die Selbstverortung! – halte ich es angesichts enorm beunruhigender, „identitär“ genannter Bewegungen in ganz Europa für geboten, im Geiste einer Selbstermächtigung offensiv und bewusst mit dem eigenen So-Sein oder Anders-Sein umzugehen. 

Wie könnte ein solcher offensiver Umgang aussehen? So sehr ich dagegen bin, Labels in Form von Zuschreibungen in Bezug auf Andere zu verwenden, so sehr bin ich dafür, die eigene Perspektive zu kennen und immer wieder kritisch zu überprüfen. Erst daraus entsteht Identität: aus Kenntnis und Hinterfragung des vermeintlich Eigenen. Auch deswegen besteht überhaupt kein Sinn darin, Dritten ein identifikatorisches Label zu verpassen. Denn Identität ist keine feste Größe. Sie speist sich aus vielen Einflüssen. Sie verändert sich. Und mein Gegenüber hat genau wie ich ein Recht auf Selbstverortung und Selbstbestimmung – gerade in der Art, wie sie oder er sich selbst beschreibt und angesprochen werden will.

Im zweiten Semester meines Regiestudiums in Hamburg habe ich mich beim Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES) um Aufnahme in die Grundförderung beworben. ELES wirbt mit dem Slogan „Jüdische Begabtenförderung“, und darin sind gleich zwei Labels enthalten. Begabt oder nicht, das sollten gerne Andere entscheiden – aber ich hatte meine Zweifel, ob ich Andere gleichermaßen darüber urteilen lassen wollte, ob ich „jüdisch genug“ wäre für ein „jüdisches“ Stipendium. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich blieb der einzige, der diese Frage stellte. In meinem Aufnahmegespräch ging es um Theater und Gesellschaft, um Engagement und Interessen. Natürlich ging es auch ums Jüdischsein – aber in fragender, nicht in determinierender Weise.

Die Förderung durch das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk hat mich darin bestärkt, Identität als wandelbares Konstrukt zu denken; bestärkt auch darin, die eigene Perspektive nicht als Zuschreibung zu erleben, sondern als Chance auf eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, heute in Deutschland (jüdische) Minderheit zu sein. ELES ist ein von pluralistisch-humanistischen Idealen getragenes Netzwerk, das Konflikte begrüßt und simple Lösungen meidet. Es unterstützt seine Stipendiat*innen in ihrer Beschäftigung mit Identität, Kultur, Religion und Gesellschaft. Es vermittelt Zugänge, statt Barrieren zu bauen – und dies nicht nur innerhalb der eigenen Institution: Zahlreiche Veranstaltungen finden inzwischen in enger Kooperation mit dem muslimischen Studienwerk AVICENNA statt. Mit dem Programm Dialogperspektiven hat ELES zudem eine Veranstaltungs- und Diskursreihe zu Religion und Weltanschauungen initiiert, die Teilnehmenden aller dreizehn Förderwerke offensteht. Und was mich als Theatermacher besonders freut: Seit diesem Juni verfügt das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk über eine eigene Förderplattform für Nachwuchskünstler*innen. Das DAGESH KunstLAB richtet sich an jüdische Studierende aller künstlerischen Disziplinen. Dabei geht es nicht darum, „jüdische Kunst“ zu produzieren, wohl aber darum, die eigene Perspektive auch und gerade im künstlerischen Schaffensprozess zu befragen.

Um eines ganz klar zu machen: Bei ELES reicht es nicht, zu sagen: „Ich bin Jude, und das ist auch gut so.“ Denn ELES ist ein Denkraum, ein translokales Zuhause, eine Diskursmaschine von und für junge Jüdinnen und Juden in Deutschland, die Lust haben, Fragen zu stellen. Kurz: Das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk schöpft sein Potential aus der Diversität der in ihm versammelten Identitäten. No further labels needed.

Tobias Herzberg ist Regisseur und Dramaturg. Er studierte u.a. an den Theaterhochschulen in Hamburg und Zürich. Von 2011-14 war er Stipendiat in der Grundförderung des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks (ELES). Seit diesem Frühjahr ist er Mitglied des Kuratoriums von DAGESH – KunstLAB ELES, einem bundesweiten Förderprogramm für jüdische Nachwuchskünstler*innen. Ab August 2016 wird er Dramaturg am Studio des Berliner Maxim-Gorki-Theaters.


Hier gelangt ihr zu den anderen Einblicken des Monats:

Juni 2016: Bericht von Luca Uhlig

Mai 2016: Als Erster in der Familie studieren? Klar, mit einem Stipendium!

April 2016: Den Geflüchteten ein Gesicht geben: Über(s)Leben in Brandenburg

März 2016: Bericht von Franziska Pflaum

Februar 2016: Einblick des Monats

Januar 2016: Einblick des Monats

Dezember 2015: 90 Jahre, 90 Köpfe

November 2015: Große und kleine Transformationen 

Oktober 2015: Universität für Flüchtlinge

September 2015: Vereinbarkeit von Studium, Ehrenamt und Familie dank der Unterstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung

August 2015: DAS JOURNALISTISCHE FÖRDERPROGRAMM DER HANNS-SEIDEL-STIFTUNG 

Juli 2015: Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen.  Eine Perspektive zweier Stipendiatinnen des Avicenna-Studienwerks 

Juni 2015: Chen Jerusalem, Alumnus des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks über sein Studium und seine Abschlussarbeit „Cover the Body with Feelings“ 

Mai 2015: Erstes Absolventenkonzert mit Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Musikerförderung des Cusanuswerks

April 2015: Mitbestimmen und über den Tellerrand schauen — das Evangelische Studienwerk ermöglicht neue Perspektiven

März 2015: Den Gründergeist schon während des Studiums entdeckt

Februar 2015: Bericht von Ronny Zimmermann, Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung

Januar 2015: Das FES-Bildungsprogramm von und für Stipendiat_innen 

Dezember 2014: Begabtenförderung der Friedrich-Naumann-Stiftung

November 2014: STUDIENSTIFTUNG ZEICHNET BESONDERES ENGAGEMENT AUS: MAXIMILIAN OEHL ERHÄLT DEN „WEITER?GEBEN!“-PREIS 2015

September 2014: Mein Weg zur Hans-Böckler-Stiftung und die Förderung der Stiftung

August 2014: Materielle und ideelle Ermöglichung zum Andersdenken mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Juli 2014: Kleine Klassen, echte Profis als Lehrer

Juni 2014: WEITER HORIZONT, ENGE GRENZEN? – Austausch ohne Grenzen in offenes Netzwerk als Teil der „Villigster Gemeinschaft“

Mai 2014: Bericht von Nina Schießl (Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk)

April 2014: Aufbrechen zu neuen Zielen. Mit den Begabtenförderwerken in die Welt. (Bericht von Maria Dillmann, Cusanuswerk)

März 2014: muslimisch – talentiert – engagiert. Avicenna-Studienwerk startet mit der ersten Bewerbungsphase

Februar 2014: "Bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft kommen Studierende aus allen Fachrichtungen zusammen"

Januar 2014: Studieren und Promovieren mit einem Kind oder – man mag es kaum glauben - sogar mehreren Kindern? (Bericht von Helen Schmitt-Lohmann und Laura Solzbacher, Konrad-Adenauer-Stiftung)

Dezember 2013: Ein Tag aus meinem Leben als Stipi von Tina Jung, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung

November 2013: Abschlussbericht von Olivia Güthling, Altstipendiatin der Friedrich Naumann-Stiftung

 

Avicenna Studienwerk
Cusanuswerk e.V.
Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk
Evangelisches Studienwerk e.V. Villigst
Friedrich-Ebert-Stiftung
Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit
Hans Böckler Stiftung
Hanns Seidel Stiftung
Heinrich Böll Stiftung
Rosa Luxemburg Stiftung
Stiftung der deutschen Wirtschaft
Studienstiftung des deutschen Volkes