Erzähl uns ein bisschen von dir
Mein Name ist Natascha Shevchenko, ich bin 29 Jahre alt und stamme aus der Ukraine. Dadurch, dass ich in einem winzigen ukrainischen Dorf geboren bin, war meine Kindheit deutlich anders als bei anderen Kindern aus der Stadt. Ich bin in einer Bauernfamilie aufgewachsen und habe auch sehr viel vom ländlichen Leben und sehr einfachen Lebensverhältnissen mitbekommen. Ich bin in eine „ganz normale“ Dorfschule gegangen, die sich in nichts von anderen Schulen unterschieden hat, und habe versucht, dort alles an Wissen mitzunehmen, was ich konnte, da ich viel Spaß am Lernen hatte. Schon in der Schule war ich als Klassensprecherin und als Mitglied im Schulrat aktiv in die Schulpolitik involviert. Ich glaube, es gab kein Schulfest, das ich nicht mitgestaltet habe. In der Ukraine gibt es zu jedem Schulfach eine sogenannte „Olympiade“, ein Wettbewerb zwischen den Schulen, an denen Schüler*innen teilnehmen können. Dadurch, dass ich besonders viel Spaß an Geographie hatte, vertrat ich jedes Jahr meine Schule auf Landesebene in einer solchen Geographie-Olympiade und landete immer auf den ersten Plätzen.
Nach dem Schulabschluss entschloss ich mich zuerst Musik, genauer gesagt Gesang zu studieren an einer Hochschule in der Ukraine, in Riwne. Ich habe dort meinen Bachelor in Musik gemacht. Nach meinem Studienabschluss realisierte ich, dass ich noch nie im Ausland war und eine Auslandserfahrung machen wollte. Weil weder ich selbst noch meine Eltern mir eine Auslandsreise finanzieren konnten, entschloss ich mich, ein Jahr in einer Gastfamilie in Deutschland als Au Pair zu verbringen und Deutsch zu lernen. Meine Gastfamilie hat mich sehr gut aufgenommen und sehr schnell hatte ich das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein. In diesem Jahr habe ich viele deutsche Freunde gefunden und konnte mich sehr gut mit der deutschen Kultur identifizieren. Deshalb beschloss ich, noch ein Jahr länger zu bleiben, ein FSJ zu machen und weiter die Sprache zu lernen. In dieser Zeit habe ich mich auch entschieden, in Deutschland zu studieren. Nach zwei Jahren war mein Deutsch-Niveau so gut, dass ich ein Studium beginnen konnte. Ich wollte aber nicht weiter Musik studieren, sondern habe mich für den Studiengang Geographie an der Ruhr-Universität Bochum entschieden. Mittlerweile bin ich am Ende meines Masterstudiums und bin sehr dankbar dafür, dass ich über die Hälfte meiner Studienzeit durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert wurde.
Was begeistert dich am Studium der Geographie?
Als Geographin versuche ich, verschiedene Zusammenhänge in der Umwelt zu verstehen und mit diesem Wissen entscheidungsrelevante Aussagen zu treffen. Ich besuche mit einer großen Neugier all die spannenden Lehrveranstaltungen, auch über das Pflichtprogramm hinaus, um mir ein umfassendes Fachwissen anzueignen. In meinem Master in Geoinformatik beschäftige ich mich vor allem damit, verschiedene geographische Modelle zu konstruieren, um Vorhersagen machen zu können. Ebenfalls fasziniert mich der Bereich der Fernerkundung, wo ich mithilfe von Satellitenbildern viele Informationen zu Veränderungen auf unseren Planeten erhalten kann.
Wo engagierst du dich?
Neben meinem Studium ist es mir unheimlich wichtig, an benachteiligte Menschen zu denken und ihnen zu helfen. Deshalb versuche ich, mich neben dem Studium gesellschaftspolitisch zu engagieren. Schon seit meinem ersten Jahr in Deutschland, helfe ich bei der Sternsingeraktion, wo wir u.a. Geld für Hilfsprojekte in Entwicklungsländern sammeln. Bei der Flüchtlingswelle im Jahr 2016 habe ich mich um eine minderjährige Geflüchtete aus Eritrea gekümmert. In den letzten Jahren habe ich mich viel bei der Bahnhofsmission in Bochum engagiert, wo wir Obdachlosenhilfe geleistet haben, besonders in der kalten Jahreszeit. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges bin ich als Ukrainerin selbstverständlich sehr aktiv bei der Unterstützung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine. So haben mein Freund und ich eine ukrainische Familie in Warschau abgeholt und in einer kirchlichen Gemeinde untergebracht. Wir unterstützen sie bei allen Angelegenheiten, die anstehen, sei es ein Behördengang, ein Arztbesuch oder beim Zurechtfinden in der Stadt. Mittlerweile haben wir auch Kontakt zu anderen ukrainischen Familien, denen wir bei ihren Fragen helfen. Ich bin davon überzeugt, dass man viel mehr gewinnt, wenn man sich nicht nur auf den persönlichen Erfolg konzentriert, sondern auch anderen Menschen hilft, die sich in einer schwierigen Situation befinden.
Wie bist du zur Friedrich-Ebert-Stiftung gekommen?
Durch meinen Freund bin auf die Möglichkeit einer Studienfinanzierung durch Stipendien aufmerksam geworden und hatte eigentlich keine große Hoffnung, eines zu erhalten. Am Anfang meines Studiums waren meine Noten eher durchschnittlich und ich dachte, dass man bei der Bewerbung bei einer politischen Stiftung Mitglied einer Partei sein muss. Ich dachte auch, dass man besonders begabt sein muss, um ein Stipendium zu bekommen, aber ich bin doch gar nicht so begabt… Mein Freund hat mich jedoch ermutigt, mich dennoch zu bewerben, denn ich habe ja sowieso nichts zu verlieren. Nachdem ich mir alle Stiftungen angeschaut habe, konnte ich mich am besten mit den Werten der Friedrich-Ebert-Stiftung identifizieren, weshalb ich mich bei der FES beworben habe. Nach einer langen Wartezeit, bin ich in Tränen ausgebrochen, als ich die Zusage erhalten habe.
Welche Möglichkeiten eröffnen sich für dich durch das Stipendium?
Für die meisten Bewerber*innen spielt der finanzielle Faktor eines Stipendiums sicherlich eine sehr große Rolle. Dadurch, dass ich auch finanzielle Hilfe bekomme, kann ich mich einerseits auf mein Studium konzentrieren und andererseits noch mehr Zeit für mein gesellschaftspolitisches Engagement aufbringen. Neben der Studienfinanzierung ist ein Stipendium aber noch viel mehr. Ein Stipendium ermöglicht Studierenden, sich über das Studium hinaus persönlich zu entwickeln und über den Tellerrand hinauszuschauen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung bietet im Rahmen der ideellen Förderung ein vielfältiges Angebot. In den Soft-Skill-Seminaren können wir beispielsweise unsere persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen erweitern, wie Rhetorik, Präsentation vor Gruppen etc.. Darüber hinaus ist es total spannend an Seminaren der politischen Bildung teilzunehmen, wo man über gesellschaftsrelevante Themen Neues erfahren und diskutieren kann.
Bei uns in der Stiftung haben wir viele verschiedene Möglichkeit uns zu engagieren. Die Stipendiat*innen werden immer unterstützt, wenn sie ein eigenes Seminar organisieren oder in einem der 19 themenspezifischen Arbeitskreise ihre kreativen Ideen verwirklichen und gesellschaftspolitisch relevante Themen bearbeiten wollen. Wir haben an fast jedem Hochschulort eine Hochschulgruppe (HSG), in der sich die Stipendiat*innen vernetzen, austauschen und gegenseitig unterstützen. Ich war zwei Jahre Sprecherin eines Arbeitskreises, der sich mit den Themen Digitalisierung, Medien und Netzpolitik beschäftigt. In dieser Zeit habe ich mehrere Arbeitskreistreffen und Seminarreihen gemeinsam mit anderen Stipendiat*innen organisiert. Dadurch habe ich sehr wertvolle Erfahrungen gesammelt, die ich im Studium nicht bekommen hätte. Vor Kurzem habe ich mich entschlossen, meine Seminarleitungskompetenz zu erweitern und gestalte nun auch die Einführungsseminare für die neuaufgenommenen Stipendiat*innen mit.
Was mich schon immer in unserer Stiftung beeindruckt hat, ist die Offenheit der Menschen und der unkomplizierte Umgang miteinander auf allen Ebenen. Wir sind wie eine große Familie, denn viele kennen sich persönlich. Jede*r Stipendiat*in hat engen Kontakt zu den Sachbearbeiter*innen der Betreuung und sie wiederum haben immer ein offenes Ohr für all unsere Fragen und Sorgen.
Was kannst du anderen Studierenden empfehlen, die sich für ein Stipendium interessieren, sich aber nicht trauen, sich zu bewerben?
Oft sind wir mit uns selbst sehr kritisch und glauben gar nicht, dass das, worin wir uns ehrenamtlich engagieren, bereits einen hohen Wert für die Gesellschaft hat. Dieser selbstkritische Blick hindert leider viele tatsächlich sehr engagierte Studierende daran, sich für ein Stipendium zu bewerben. Um ehrlich zu sein, finde ich immer noch, dass meine Studiennoten und mein Engagement im Vergleich zu vielen anderen Studierenden nicht so viel besser und ausgeprägter sind , doch mein Beispiel zeigt umso stärker, dass jede*r der/die sich bewirbt, eine Chance hat. Ich glaube, dass das Wort Begabtenförderung ein bisschen vorbelastet ist. Viele glauben, dass man dafür begabt sein muss. Das ist falsch, denn was bedeutet schon begabt sein? Ich glaube, dass wenn man im Studium einigermaßen hinterherkommt, ein wenig über seinen Tellerrand hinausschaut und sich engagiert, dann hat man gute Chancen für ein Stipendium.