Ich heiße Florian Meier und studiere seit September 2021 den Master „Etudes Politiques“ (Politikwissenschaften) an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ (EHESS) in Paris. Nach dem Abschluss einer Ausbildung zum Heilerziehungspfleger im Jahr 2017 und einem Jahr beruflicher Tätigkeit, habe ich mich für ein Bachelor-Studium in der Soziologie und den Politikwissenschaften an der Universität Frankfurt entschieden. Grund für das Studium waren vor allem die Erfahrung sozialer Ausgrenzung, die ich in meiner Arbeit mit Menschen mit Behinderung gesammelt habe. Dass „care“-Arbeit immer noch kaum gesellschaftlich anerkannt und vergütet wird oder dass Menschen mit Behinderung oft in autoritären und unterfinanzierten Institutionen leben müssen, erschien mir immer als ein Paradox, etwas das ich verstehen wollte
Das Bedürfnis nach Antworten auf diese Fragen zeigt sich vielleicht paradoxerweise am besten daran, dass ich mich seit dem Beginn meines Studiums im Jahr 2018 besonders für die Logik sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, wie auch für die kritische Theorie der Frankfurter Schule interessierte. Beides sind vermutlich akademische Disziplinen, die gar keine konkreten Antworten auf die Fragen, die ich mir gestellt hatte, erlauben und es vielmehr ablehnen, den behandelnden „Arzt der Gesellschaft“, der die Medizin für die sozialen Probleme verschreibt, zu spielen. Sie haben es mir jedoch erlaubt meine Fragen anders zu stellen und die historischen Komplexe zu sehen, die hinter sozialen Problemen wie der „Behinderung“ stehen. Das Soziale, oder der „soziale Bereich“, wie man oft sagt, in dem ich mehrere Jahre gearbeitet habe, ist eben nicht nur der Bereich in dem die Probleme unserer Gesellschaft behandelt werden, sondern auch eine historische Erfindung, durch die sich die Machtverhältnisse in unseren Gesellschaften verfestigen. Dies war vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Studiums: dass die sozialen Problematiken in unserer Gesellschaft in diesem Bereich meist gar nicht gelöst oder „geheilt“ werden können, sondern in der Regel nur die Effekte von historisch gemachten Machtverhältnissen sind, die es zu analysieren und zu kritisieren gilt. Die Soziologie und die Sozialphilosophie, deren Aufgabe dies ist, haben mir einen Weg eröffnet, dies besser zu verstehen. Im Rahmen meiner Bachelorarbeit beschäftigte ich mich unter anderem deshalb mit dem Begriff der „Autorität” als soziologischer und politischer Diagnostik in der kritischen Theorie Max Horkheimers.
Aufgrund meines wachsenden Interesses für die kritische Soziologie Bourdieus, die Philosophie Michel Foucaults und die gegenwärtigen französischen Sozialwissenschaften, ging ich im Sommer 2020 für die letzten beiden Semester meines Studiums nach Paris. Dort studierte ich an der Université de Versailles und an der Université Paris VIII. Nach einem Jahr als Erasmus-Student in Paris bewarb ich mich auf Empfehlung meiner Professor*innen an der EHESS, wo ich seit September 2021 den Master „Etudes Politiques“ (Politikwissenschaften) studiere.
Eine der zentralen Fragen, die mich seit dem Abschluss meines Bachelor-Studiums an der Universität Frankfurt beschäftigt, ist wie unter den veränderten Bedingungen einer neoliberalen Gesellschaft sozialwissenschaftliche als auch kritische Theoriebildung aussehen könnte. Diesen Themen widme ich mich aktuell mit meinem Master-Forschungsprojekt, an dem ich seit September 2021 unter der Leitung von Prof. Dr. Bernard Harcourt arbeite. Im Rahmen dieser Forschung beschäftige ich mich mit den Rezeptionswegen der Philosophie Michel Foucaults in der Sozialforschung in der Tradition der kritischen Theorie seit 1970er Jahren. Einen ersten Teil dieses Projektes konnte ich vor kurzem im Rahmen des Workshops „Ordinary Life in Philosophy and Anthropology. Theories, Practices, Methods.“ am Collège de France vorstellen. Die Seminare und Forschungszentren der EHESS, der Zugang zu den Manuskripten Foucaults an der bibliothèque nationale, als auch die Fortsetzung der kritischen Denktradition in aktuellen Forschungen an der EHESS, bieten für mein Master-Projekt die idealen Voraussetzungen.
Durch die Auslandsförderung der Hans-Böckler-Stiftung ist es mir zudem möglich, einen Teil meines Master-Projektes im kommenden Wintersemester an der „Columbia Law School“ und am „Columbia Center for Critical Thought“ in New York umzusetzen. Dort werde ich als “visiting scholar” an einem Forschungsprojekt zur Frankfurter Schule im Exil arbeiten
Neben meinem Studium und meiner Forschungstätigkeit engagiere ich mich politisch. Als Referent für politische Bildung der Studierendenvertretung der Universität Frankfurt organisierte ich bspw. einen Wochenendworkshop zum Thema Klasse und Klassismus an der Universität. Dieser bot Student*innen, die nicht aus Akademiker*innen-Familien kommen, die Möglichkeit sich untereinander aber auch mit Professor*innen über die sozialen Ausschlussmechanismen der Universität auszutauschen. Diskutiert wurden zudem die Möglichkeiten und Grenzen von politischen Interessensvertretungen von Arbeiter*innenkindern an der Universität.
Der Zugang zu einem Studium und auch zu Forschungseinrichtungen wie der EHESS oder der Columbia Law School wären für mich aufgrund der ökonomischen Lage meiner Familie ohne ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung niemals möglich gewesen. Auf die Idee mich überhaupt bei der Hans-Böckler-Stiftung zu bewerben, brachte mich eine Freundin aus der Gewerkschaft „ver.di“. Meine Freunde aus Deutschland und Frankreich waren auf diesem ganzen Weg überhaupt sehr wichtig. Sie haben mich immer unterstützt und ohne sie wären dieses Studium und viele der Erfahrungen, die es mir vermittelt hat, nicht möglich gewesen. Mit ihnen teile ich den Gedanken, dass unsere Welt vielleicht nicht so sein muss, wie sie ist. Eben den Gedanken, der mich vielleicht auch erst zu meinem Studium gebracht hat und auf den ich auch heute in meiner oft sehr „theoretischen“ Auseinandersetzung mit der Welt insistieren würde. Ich hoffe, dass die Hans-Böckler-Stiftung auch zukünftig vielen jungen Menschen nicht nur den Zugang zu einer ‚besseren‘ ökonomischen Welt, sondern auch zu anderen Erfahrungen, zu kritischem Denken und Handeln verhilft, welches Ungerechtigkeit in unserer Welt wirksam begegnen kann.