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© Heidi Scherm. Quelle: sdw
© Heidi Scherm. Quelle: sdw

Einblick des Monats Juli 2022

Ein Beitrag von Florian Meier, Hans-Böckler-Stiftung

 

Ich heiße Florian Meier und studiere seit September 2021 den Master „Etudes Politiques“ (Politikwissenschaften) an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ (EHESS) in Paris. Nach dem Abschluss einer Ausbildung zum Heilerziehungspfleger im Jahr 2017 und einem Jahr beruflicher Tätigkeit, habe ich mich für ein Bachelor-Studium in der Soziologie und den Politikwissenschaften an der Universität Frankfurt entschieden. Grund für das Studium waren vor allem die Erfahrung sozialer Ausgrenzung, die ich in meiner Arbeit mit Menschen mit Behinderung gesammelt habe. Dass „care“-Arbeit immer noch kaum gesellschaftlich anerkannt und vergütet wird oder dass Menschen mit Behinderung oft in autoritären und unterfinanzierten Institutionen leben müssen, erschien mir immer als ein Paradox, etwas das ich verstehen wollte

Das Bedürfnis nach Antworten auf diese Fragen zeigt sich vielleicht paradoxerweise am besten daran, dass ich mich seit dem Beginn meines Studiums im Jahr 2018 besonders für die Logik sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, wie auch für die kritische Theorie der Frankfurter Schule interessierte. Beides sind vermutlich akademische Disziplinen, die gar keine konkreten Antworten auf die Fragen, die ich mir gestellt hatte, erlauben und es vielmehr ablehnen, den behandelnden „Arzt der Gesellschaft“, der die Medizin für die sozialen Probleme verschreibt, zu spielen. Sie haben es mir jedoch erlaubt meine Fragen anders zu stellen und die historischen Komplexe zu sehen, die hinter sozialen Problemen wie der „Behinderung“ stehen. Das Soziale, oder der „soziale Bereich“, wie man oft sagt, in dem ich mehrere Jahre gearbeitet habe, ist eben nicht nur der Bereich in dem die Probleme unserer Gesellschaft behandelt werden, sondern auch eine historische Erfindung, durch die sich die Machtverhältnisse in unseren Gesellschaften verfestigen. Dies war vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Studiums: dass die sozialen Problematiken in unserer Gesellschaft in diesem Bereich meist gar nicht gelöst oder „geheilt“ werden können, sondern in der Regel nur die Effekte von historisch gemachten Machtverhältnissen sind, die es zu analysieren und zu kritisieren gilt. Die Soziologie und die Sozialphilosophie, deren Aufgabe dies ist, haben mir einen Weg eröffnet, dies besser zu verstehen. Im Rahmen meiner Bachelorarbeit beschäftigte ich mich unter anderem deshalb mit dem Begriff der „Autorität” als soziologischer und politischer Diagnostik in der kritischen Theorie Max Horkheimers.

Aufgrund meines wachsenden Interesses für die kritische Soziologie Bourdieus, die Philosophie Michel Foucaults und die gegenwärtigen französischen Sozialwissenschaften, ging ich im Sommer 2020 für die letzten beiden Semester meines Studiums nach Paris. Dort studierte ich an der Université de Versailles und an der Université Paris VIII. Nach einem Jahr als Erasmus-Student in Paris bewarb ich mich auf Empfehlung meiner Professor*innen an der EHESS, wo ich seit September 2021 den Master „Etudes Politiques“ (Politikwissenschaften) studiere.

Eine der zentralen Fragen, die mich seit dem Abschluss meines Bachelor-Studiums an der Universität Frankfurt beschäftigt, ist wie unter den veränderten Bedingungen einer neoliberalen Gesellschaft sozialwissenschaftliche als auch kritische Theoriebildung aussehen könnte. Diesen Themen widme ich mich aktuell mit meinem Master-Forschungsprojekt, an dem ich seit September 2021 unter der Leitung von Prof. Dr. Bernard Harcourt arbeite. Im Rahmen dieser Forschung beschäftige ich mich mit den Rezeptionswegen der Philosophie Michel Foucaults in der Sozialforschung in der Tradition der kritischen Theorie seit 1970er Jahren. Einen ersten Teil dieses Projektes konnte ich vor kurzem im Rahmen des Workshops „Ordinary Life in Philosophy and Anthropology. Theories, Practices, Methods.“ am Collège de France vorstellen. Die Seminare und Forschungszentren der EHESS, der Zugang zu den Manuskripten Foucaults an der bibliothèque nationale, als auch die Fortsetzung der kritischen Denktradition in aktuellen Forschungen an der EHESS, bieten für mein Master-Projekt die idealen Voraussetzungen.

Durch die Auslandsförderung der Hans-Böckler-Stiftung ist es mir zudem möglich, einen Teil meines Master-Projektes im kommenden Wintersemester an der „Columbia Law School“ und am „Columbia Center for Critical Thought“ in New York umzusetzen. Dort werde ich als “visiting scholar” an einem Forschungsprojekt zur Frankfurter Schule im Exil arbeiten

Neben meinem Studium und meiner Forschungstätigkeit engagiere ich mich politisch. Als Referent für politische Bildung der Studierendenvertretung der Universität Frankfurt organisierte ich bspw. einen Wochenendworkshop zum Thema Klasse und Klassismus an der Universität. Dieser bot Student*innen, die nicht aus Akademiker*innen-Familien kommen, die Möglichkeit sich untereinander aber auch mit Professor*innen über die sozialen Ausschlussmechanismen der Universität auszutauschen. Diskutiert wurden zudem die Möglichkeiten und Grenzen von politischen Interessensvertretungen von Arbeiter*innenkindern an der Universität.

Der Zugang zu einem Studium und auch zu Forschungseinrichtungen wie der EHESS oder der Columbia Law School wären für mich aufgrund der ökonomischen Lage meiner Familie ohne ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung niemals möglich gewesen. Auf die Idee mich überhaupt bei der Hans-Böckler-Stiftung zu bewerben, brachte mich eine Freundin aus der Gewerkschaft „ver.di“. Meine Freunde aus Deutschland und Frankreich waren auf diesem ganzen Weg überhaupt sehr wichtig. Sie haben mich immer unterstützt und ohne sie wären dieses Studium und viele der Erfahrungen, die es mir vermittelt hat, nicht möglich gewesen. Mit ihnen teile ich den Gedanken, dass unsere Welt vielleicht nicht so sein muss, wie sie ist. Eben den Gedanken, der mich vielleicht auch erst zu meinem Studium gebracht hat und auf den ich auch heute in meiner oft sehr „theoretischen“ Auseinandersetzung mit der Welt insistieren würde. Ich hoffe, dass die Hans-Böckler-Stiftung auch zukünftig vielen jungen Menschen nicht nur den Zugang zu einer ‚besseren‘ ökonomischen Welt, sondern auch zu anderen Erfahrungen, zu kritischem Denken und Handeln verhilft, welches Ungerechtigkeit in unserer Welt wirksam begegnen kann.

 


Hier gelangt ihr zu den anderen Einblicken des Monats:

Juni: Die Stiftung hält mir den Rücken frei und gibt mir gleichzeitig Rückenwind

Mai: Ein Beitrag von Leroy Brünner, Heinrich-Böll Stiftung

April: Studienstiftung vergibt Exposé-Stipendien – Vom Studium zur Promotion

März: Anna Sophie Schneider, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Februar: Die interregionale Gruppe der Hanns-Seidel-Stiftung

Januar: Kübranur Binek: „Gemeinsam und vielfältig sind wir stark!“ - Stipendiatin des Avicenna-Studienwerks

Dezember 2021: Maxim Alexander Olijnik, Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk

November 2021: Anna Handler, Cusanuswerk

Oktober 2021: Mano Barragan, Evangelisches Studienwerk Villigst

September 2021: Bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft kann man die Herausforderung Unternehmertum meistern

August 2021: Ein Beitrag von Frane Skaro, Konrad-Adenauer-Stiftung

Juli 2021: Ein Beitrag von Pauline Redlich, Friedrich-Ebert-Stiftung

Juni 2021: Sabine Baumgartner – Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung

April 2021: Interdisziplinäre Brücken bauen mit der Heinrich-Böll-Stiftung, ein Gespräch mit Carolin Schuster

März 2021: Kurz-Interview Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Februar 2021: Kurz-Interview Rosa-Luxemburg-Stiftung, 12.01.2021

Januar 2021: Chamina Rietze – Stipendiatin des Journalistischen Förderprogramms der Hanns-Seidel Stiftung

Dezember 2020: Hendrik Brecht – Stipendiat des Avicenna-Studienwerks und Student der Rechtswissenschaft

November 2020: Anna Basina, Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk

Oktober 2020: Marius Kulassek, Stipendiat des Cusanuswerks

September 2020: Julian Bartsch, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst. Leben und Studieren mit Autismus

August 2020: Mission: Chancengerechtigkeit in Kindertagestätten. Mona Bannwarth, Stipendiatin der Stiftung der Deutschen Wirtschaft

Juli 2020: Steffi Heger, Promotionsstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ein Gespräch über persönliche Entwicklung und den eigenen wissenschaftlichen Beitrag

Juni 2020: Interview mit Charlotte Hattendorf

Mai 2020: Vom Schlosser ins chinesische Recht

April 2020: Ein Gespräch mit Aylin Karabulut, Promotionsstipendiatin der Studienstiftung, über ihre Projekte in der Migrations- und Ungleichheitsforschung

März 2020: Amer Althiab, Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung

Februar 2020: Victoria Adouvi, Stipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung

Januar 2020: 20 Jahre Studienwerk RLS – 20 Jahre Kampf für die Bildungsgerechtigkeit- rebellisch- links- solidarisch

Dezember 2019: Anna Axtner-Borsutzky, Stipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung

November 2019: Zeynep Aydin, Stipendiatin des Avicenna-Studienwerk e.V.

Oktober 2019: Alissa Frenkel, Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES)

September 2019: Carolin Schlüter, Stipendiatin des Cusanuswerks

August 2019: Pircivan Kalik, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst: Die Mischung macht es aus

Juli 2019: Yagmur Özkan und Christian Serrer, Stiftung der deutschen Wirtschaft (SDW)

Juni 2019: Mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland studieren. Ein Erfahrungsbericht von US-Amerikanerin Alex Swanson

Mai 2019: Arsdeep Kaur, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung

April 2019: Desiree Maier: Köchin - Abi - Archäologie

März 2019: Henning Dirks, Stipendiat der Studienstiftung

Februar 2019: Banu Çiçek Tülü, Heinrich-Böll-Stiftung

Januar: Michael Klipphahn, Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit September 2016. KUNSTGESCHICHTE, HfBK Hamburg

Dezember 2018: New York, New York - Mit dem RLS-Promotionskolleg in der Stadt, die niemals schläft. Ein Bericht von Sarah

November 2018: Schritt für Schritt über sich selbst hinauswachsen!

Oktober 2018: Aus dem Nähkästchen

September 2018: Ein Studienwerk, das einer zweiten Familie gleicht (ELES) 

August 2018: Gregor Christiansmeyer, Stipendiat des Cusanuswerks

Juli 2018: Evangelisches Studienwerk Villigst Ein Bericht von Bernhard Nemerth, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks

Juni 2018: Ehrenamtlich bei der Feuerwehr: Porträt unseres Stipendiaten Benedikt Schinzel von der Hochschule Furtwangen 

Mai 2018: "Ein Stipendium ist ein Privileg" Ein Beitrag von Deborah Manavi

April 2018: Beitrag von Delara Burkhardt, Friedrich-Ebert-Stiftung

März 2018: Raus aus dem Betrieb - rein in die Welt

Februar 2018: Ein Porträt der Stipendiatin der Studienstiftung Silke Seibold 

Januar 2018: „Mein Kompass: Respekt, Solidarität und Toleranz!“ von Alexander Marx, Heinrich-Böll-Stiftung 

Dezember 2017: Jana Mittelstädt, Promotionsstipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit Juli 2016 

November 2017: Bericht von Silvia: (Un)mögliche Bildung(swege)? Nichts ist unmöglich!

Oktober 2017: Werte verbinden von Markus Hadwiger

September 2017: Alumni 1.0 – Ein Einblick in das Leben danach

August 2017: ELES – ein Ort für Machloket (Streitbarkeit)

Juli 2017: "Puzzlestücke – Wie aus einem Forschungsprojekt in der Mongolei Lebensphilosophie wurde"

Juni 2017: "Bewirb dich! - auch wenn es große Hürden zu geben scheint!"

Mai 2017: "Eine Millionen mal praktische Hilfe für Geflüchtete"

April 2017: "Ein Blick über den Tellerrand"

März 2017: "Deswegen ist es gut, FES-Stipendiat_in zu sein"

Februar 2017: "Ich studiere" klang für mich ähnlich utopisch wie "Ich fliege zum Mars".

Januar 2017: "Als Botschafter setze ich mich für mehr Chancengleichheit in der Bildung ein."

Dezember 2016: „Ein vielfältiges Netzwerk aufbauen“

November 2016: „Ich wollte mich ausprobieren“

Oktober 2016: Bericht von Amina & Corinna

September 2016: Dankbarkeit – ein Bericht von Andreas Wüst

August 2016: Vom Willkommen Heißen zum Ankommen Helfen - Das Flüchtlingslotsenprojekt „Unsere Zukunft. Mit Dir!“

Juli 2016: Denkraum und Diskursmaschine 

Juni 2016: Bericht von Lucas Uhlig

Mai 2016: Als Erster in der Familie studieren? Klar, mit einem Stipendium!

April 2016: Den Geflüchteten ein Gesicht geben

März 2016: Bericht von Franziska Pflaum

Februar 2016: Einblick des Monats

Januar 2016: Einblick des Monats

Dezember 2015: 90 Jahre, 90 Köpfe

November 2015: Große und kleine Transformationen 

Oktober 2015: Universität für Flüchtlinge

September 2015: Vereinbarkeit von Studium, Ehrenamt und Familie dank der Unterstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung

August 2015: DAS JOURNALISTISCHE FÖRDERPROGRAMM DER HANNS-SEIDEL-STIFTUNG 

Juli 2015: Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen.  Eine Perspektive zweier Stipendiatinnen des Avicenna-Studienwerks 

Juni 2015: Chen Jerusalem, Alumnus des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks über sein Studium und seine Abschlussarbeit „Cover the Body with Feelings“ 

Mai 2015: Erstes Absolventenkonzert mit Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Musikerförderung des Cusanuswerks

April 2015: Mitbestimmen und über den Tellerrand schauen — das Evangelische Studienwerk ermöglicht neue Perspektiven

März 2015: Den Gründergeist schon während des Studiums entdeckt

Februar 2015: Bericht von Ronny Zimmermann, Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung

Januar 2015: Das FES-Bildungsprogramm von und für Stipendiat_innen 

Dezember 2014: Begabtenförderung der Friedrich-Naumann-Stiftung

November 2014: STUDIENSTIFTUNG ZEICHNET BESONDERES ENGAGEMENT AUS: MAXIMILIAN OEHL ERHÄLT DEN „WEITER?GEBEN!“-PREIS 2015

September 2014: Mein Weg zur Hans-Böckler-Stiftung und die Förderung der Stiftung

August 2014: Materielle und ideelle Ermöglichung zum Andersdenken mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Juli 2014: Kleine Klassen, echte Profis als Lehrer

Juni 2014: WEITER HORIZONT, ENGE GRENZEN? – Austausch ohne Grenzen in offenes Netzwerk als Teil der „Villigster Gemeinschaft“

Mai 2014: Bericht von Nina Schießl (Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk) 

April 2014: Aufbrechen zu neuen Zielen. Mit den Begabtenförderwerken in die Welt. (Bericht von Maria Dillmann, Cusanuswerk)

März 2014: muslimisch – talentiert – engagiert. Avicenna-Studienwerk startet mit der ersten Bewerbungsphase

Februar 2014: "Bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft kommen Studierende aus allen Fachrichtungen zusammen"

Januar 2014: Studieren und Promovieren mit einem Kind oder – man mag es kaum glauben - sogar mehreren Kindern? (Bericht von Helen Schmitt-Lohmann und Laura Solzbacher, Konrad-Adenauer-Stiftung)

Dezember 2013: Ein Tag aus meinem Leben als Stipi von Tina Jung, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung

November 2013: Abschlussbericht von Olivia Güthling, Altstipendiatin der Friedrich Naumann-Stiftung

 

Avicenna Studienwerk
Cusanuswerk e.V.
Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk
Evangelisches Studienwerk e.V. Villigst
Friedrich-Ebert-Stiftung
Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit
Hans Böckler Stiftung
Hanns Seidel Stiftung
Heinrich Böll Stiftung
Rosa Luxemburg Stiftung
Stiftung der deutschen Wirtschaft
Studienstiftung des deutschen Volkes