Ich bin Anna Basina, eine im postsowjetischen Moskau geborene Jüdin, die in Ostdeutschland ihr Abitur erwarb, im hanseatischen Westdeutschland ihr Medizinstudium bestreitet und sich nach 24 Jahren Lebenserfahrung der modernen Orthodoxie zugehörig fühlt. Die simplen Worte „ich bin“ verlangen in meinem Erklärungsansatz einen verschachtelten Nachsatz, dem noch viele weitere Relativsätze folgen könnten. Als ich mich 2014 um die Aufnahme in das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) bemühte, ergänzte ich in meiner Bewerbung die Worte „ich bin“ mit einem mehrdimensionalen, farbenreichen Selbstportrait und wurde zu meinem großen Segen mit all den verschachtelten Nach- und Relativsätzen in die Förderung aufgenommen. Von zentraler Bedeutung waren in meiner wortreichen Bewerbung zwei wesentliche Aspekte: meine starke Identifikation als Jüdin und meine tiefe Sehnsucht nach Wissen und Bildung. Gerade in diesen Bereichen habe ich das ELES als einen wunderbaren Begleiter in meiner Entwicklung erfahren dürfen.
Das ELES profiliert sich als ein jüdisches Begabtenförderwerk, welches in Deutschland erstmalig nach der Shoah einen einzigartigen Ort für eine neue jüdische Intellektualität und für diverse jüdische religiöse und kulturelle Lebensentwürfe geschaffen hat. Besonders ist die bei ELES gelebte Praxis der authentischen Form jüdischer Lernkultur, die ihren Ursprung im konstruktiven Streitgespräch, dem sogenannten „Machloket“, hat. Dieses praktizierte Begegnungskonzept hat mein Selbstporträt verändert, diverse Streit- und Bildungsgespräche, die ich glücklicherweise während meiner Förderzeit führen durfte, haben es um zahlreiche Farbnuancen bereichert. Daher kann ich all jenen, die die Erfahrung machen wollen, sich durch Begegnungen mit interessanten Menschen und neuen Perspektiven selber zu erkunden und zu prüfen, das ELES als Förderwerk wärmstens empfehlen.
Durch ein weltoffenes, der Pluralität und Toleranz zugewandtes Selbstverständnis befähigt ELES uns Stipendiat_innen, der Komplexität des 21. Jahrhunderts zu begegnen und seinen Herausforderungen aus jüdischer Perspektive im gesamtgesellschaftlichen Kontext entgegenzutreten. Als Ort der Begegnung, des Austauschs und gegenseitigen Lernens fordert ELES von uns eine tiefgründige Auseinandersetzung mit diversen Meinungen und Realitäten und stärkt unsere Kompetenz, mögliche Dissense auszuhalten und wertzuschätzen.
Wir sind aufgefordert unsere Gesellschaft mitzugestalten. ELES lebt diese Überzeugung beispielhaft vor und ist ein unübersehbarer und unüberhörbarer Akteur der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Europa. Mit Auslandsveranstaltungen, wie beispielsweise der New York Akademie, wird das globale und internationale Denken der Stipendiat_innen gefördert. Im Rahmen des ideellen Förderprogramms werden Themen und Zukunftsfragen aus der pluralen postmodernen Gesellschaft eruiert und unter Einbeziehung diverser Gesprächspartner_innen angegangen. Das jüngst ins Leben gerufene Programm „Nie Wieder?! Gemeinsam gegen Antisemitismus & für eine plurale Gesellschaft“, das sich an Stipendiat_innen aller 13 Begabtenförderungswerke und die interessierte Öffentlichkeit wendet, ist ein weiteres Zeugnis für das ungemein wichtige Ziel, eine zwischen Globalisierung und (rechts-)konservativem Denken zersplitterte Gesellschaft zu stabilisieren und für das zukunftsfähige Projekt eines toleranten und aufgeschlossenen Miteinanders zu gewinnen.
Das aus dem Lateinischen übersetze Wort „Stipendium“ besitzt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten: „Sold, Kriegsdienst, Steuer, Abgabe, Tribut, Gewinn“. Die Möglichkeit und Chance in Deutschland Empfänger eines Stipendiums zu werden ist ein großes Privileg, ein großer „Gewinn“. Allen interessierten Stipendiat_innen wird die Möglichkeit geboten einen eigenen Tribut zur Gestaltung des Förderwerks zu leisten, indem eigene Gedanken eingebracht werden dürfen. Aus tiefer Dankbarkeit für die mir zukommende Unterstützung und dem Auftrag zur aktiven Mitgestaltung folgend, habe ich mich während meiner Förderzeit jahrelang als Regional- und Gesamtsprecherin engagiert und bin sehr dankbar, auch in diesen Positionen gefordert und gefördert worden zu sein.
Michel de Montaigne sagte, der Genuss sei es, der uns glücklich macht, nicht der Besitz. Nun, mir scheint, ich habe im ELES einen Ort gefunden, an dem beides möglich wird. Man erwirbt neuen Besitz, bestehend aus Fragen und Antworten, Zweifeln und Überzeugungen, stillen Gedanken und lebhaften Diskussionen, man eignet sich Wissen an und neue Lust dazuzulernen und man erwirbt Freundschaften, die andauern. Man erwirbt Besitz, man lernt diesen zu genießen und daher darf ich mich sehr glücklich schätzen Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks zu sein.