Stipendium Plus
© Heidi Scherm. Quelle: sdw
© Heidi Scherm. Quelle: sdw

Einblick des Monats September 2020

Julian Bartsch, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst

Leben und Studieren mit Autismus

Mein Name ist Julian Bartsch, ich bin in Cuxhaven geboren und aufgewachsen und studiere nun mit einem Stipendium des Evangelischen Studienwerks an der Hochschule München physikalische Technik. Dadurch, dass ich mich schon früh anders als andere Kinder verhalten habe, wurde ich nach der Diagnose ADS erfolglos durch die verschiedensten Therapien geschickt.

Nach dem Wechsel auf das Gymnasium wurde mein „Anderssein“ von meinen Mitschülern in der Sekundarstufe II zum Anlass genommen, mir durch Mobbing viel meiner Lebensfreude zu nehmen. Meine bis dahin normalen schulischen Leistungen gingen gegen null und mein Leben war zunehmend durch Depressionen beeinträchtigt. Ich wiederholte gerade die siebte Klasse, als ein Freund der Familie auf meine Situation aufmerksam wurde und mich an einen Facharzt vermittelten, der schnell diagnostizierte, dass ich kein ADS, sondern Asperger-Autismus habe.

Jetzt wurden mir viele Dinge verständlich und mit familiärer Hilfe und einer guten psychologischen Begleitung fing ich an, wieder mehr Freude am Leben zu empfinden. 2017 habe ich am Alfred-Wegener-Institut/Carl-von-Ossietzky-Gymnasium erfolgreich mein naturwissenschaftliches Abitur bestanden, was auch maßgeblich durch meine Lehrer und Klassenkameraden unterstützt wurde, die sich alle mit der Thematik Asperger-Autismus auseinandersetzten und mich so besser verstehen konnten.

Als Berufswunsch kamen für mich entweder Physiker oder Meeresbiologe in Frage. Nach einem Besuch an der TUM im Januar 2017 und nach einem sehr guten Gespräch mit einem der leitenden Professoren, habe ich mich dann endgültig für die Physik entschieden. Außerdem wurde mir in diesem Gespräch empfohlen, mich um ein Stipendium zu bemühen. Gestärkt durch das gute Abitur und die gelungene Integration auf dem Gymnasium, begab ich mich also zum Wintersemester 2017 nach München. Der Freund der Familie unterstützte mich und half mir, mir vor Ort ein neues Netzwerk aufzubauen.

Der Start an der TUM war ernüchternd, obwohl wir mit einigen Professoren im Vorfelde Kontakt aufgenommen hatten, um sie über meine persönliche Situation aufzuklären. Trotz Bemühungen meinerseits, gelang es mir nicht Anschluss zu anderen Kommilitonen und Lerngruppen zu finden und an sozialen Aktivitäten teilzuhaben. Durch diese Isolation kamen meine Depressionen zurück.

Der einzige Lichtblick war, dass ich nach meiner Bewerbung für ein Stipendium beim Evangelischen Studienwerk Villigst zu einem Vorgespräch eingeladen und mir auch in einem telefonischen Vorgespräch die Möglichkeit gegeben wurde, über meine Situation als Asperger-Autist zu sprechen. Das Evangelische Studienwerk Villigst hatte ich mir in erster Linie deswegen ausgesucht, weil ich durch den Pastor meiner Gemeinde in Cuxhaven große Unterstützung erhalten hatte und er mich trotz meines Asperger-Autismus in die Konfirmandenarbeit als Teamer mit einband. Die Aufnahme als Stipendiat und die gesamte Kommunikation und Unterstützung seitens der Mitarbeiter*innen und der anderen Stipendiat*innen in Villigst gab mir etwas von meinem Selbstbewusstsein zurück. 

Seitdem ich Stipendiat bin, habe ich dreimal Schwerte-Villigst besucht: zur Auswahlveranstaltung, zur Einführungswoche und als Teilnehmer der Sommeruni 2019.  Durch die große Akzeptanz für mein „Anderssein“ war es mir möglich, die Stresssituation, die bei größeren und mir unbekannten Menschengruppen entsteht, gut zu bewältigen, da mir auch die Möglichkeit gegeben war, mich ohne schlechtes Gewissen zurückzuziehen, Klavier und Orgel zu spielen oder mich einfach nur alleine auf meinem Zimmer zu sein. Spannend fand ich bei den angebotenen Seminaren, dass durch die verschiedenen Teilnehmer*innen unterschiedlichste Studiengänge miteinander verknüpft wurden und ich trotz meiner sozialen Distanz viele positive Dinge für mich mitnehmen konnte. 

Dennoch verlief mein Studium nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Im Frühjahr 2019 war mein absoluter Tiefpunkt erreicht und ich sah keine Perspektive für eine Verbesserung. In dieser Situation wandte ich mich sowohl an meinen Studienleiter im Evangelischen Studienwerk als auch an meinen Professor an der TUM. In beiden sehr intensiv geführten Gesprächen wurden mir neue Möglichkeiten sowohl für meinen persönlichen als auch beruflichen Werdegang aufgezeigt und ich wurde bei der Umsetzung  tatkräftig unterstützt. Ich wechselte den Studiengang und studiere nun physikalische Technik an der Hochschule München. Hier hatte ich vor Semesterbeginn die Möglichkeit, mit allen Professoren längere Gespräche zu führen und auf meine Situation aufmerksam zu machen. Das mir von meinem Villigster Studienleiter empfohlene Bündnis gegen Depressionen, ein neuer Psychiater und eine neue Psychologin sind nun neben meinen Hochschulprofessoren mein neues Netzwerk, das mich erfolgreich unterstützt. 

Die überschaubaren Strukturen und die geringeren Studierendenzahlen sowie die pädagogischere Ausrichtung der Professor*innen an der neuen Hochschule geben mir das positive Gefühl, als Student nicht in der Masse zu verschwinden. Ich bin heute ein guter Student, habe nicht viele, aber gute Kontakte, die mit meinem „Anderssein“ gut umgehen können. Gemeinsames Lernen und Unternehmungen machen mein Leben wieder bunter und reicher. Ich gehe wieder meinen Hobbys nach und werde sicherer in der Kommunikation mit anderen.

Warum schreibe ich das hier auf? Ich möchte all denjenigen Mut machen, die in ihrer Familie oder in ihrem Umfeld vielleicht Kinder oder Angehörige mit einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS) haben und aufzeigen, dass es Möglichkeiten und Wege gibt, trotzdem sein Ziel zu erreichen und ein glückliches Leben zu führen. 

Und ich möchte zeigen: Ein Begabtenförderungswerk kann weitaus mehr leisten als finanzielle Unterstützung. Natürlich hat man auch Verpflichtungen, die mir als Autist manchmal nicht so leicht von der Hand gehen, aber man bekommt viel für sein Leben zurück und kann große Unterstützung erfahren.

Des Weiteren möchte ich allen, die ein Studium ins Auge fassen, raten, sich zu überlegen, ob es immer die große Universität sein muss oder ob eine gute kleinere Hochschule mit persönlicherer Begleitung nicht auch zum Ziel führen kann.

Ich habe Dank der vielfältigen Unterstützung an meiner Hochschule und durch das Evangelische Studienwerk meinen Weg gefunden und hoffe, dass er sich weiterhin so positiv gestaltet, dass ich auch irgendwann eine Hilfe für andere sein kann. Denn eins weiß ich sicher: Ohne die Begleitung durch andere, wären mein Chancen im Leben sehr gering gewesen.


Hier gelangt ihr zu den anderen Einblicken des Monats:

August 2020: Mission: Chancengerechtigkeit in Kindertagestätten. Mona Bannwarth, Stipendiatin der Stiftung der Deutschen Wirtschaft

Juli 2020: Steffi Heger, Promotionsstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ein Gespräch über persönliche Entwicklung und den eigenen wissenschaftlichen Beitrag

Juni 2020: Interview mit Charlotte Hattendorf

Mai 2020: Vom Schlosser ins chinesische Recht

April 2020: Ein Gespräch mit Aylin Karabulut, Promotionsstipendiatin der Studienstiftung, über ihre Projekte in der Migrations- und Ungleichheitsforschung

März 2020: Amer Althiab, Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung

Februar 2020: Victoria Adouvi, Stipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung

Januar 2020: 20 Jahre Studienwerk RLS – 20 Jahre Kampf für die Bildungsgerechtigkeit- rebellisch- links- solidarisch

Dezember 2019: Anna Axtner-Borsutzky, Stipendiatin der Hanns-Seidel-Stiftung

November 2019: Zeynep Aydin, Stipendiatin des Avicenna-Studienwerk e.V.

Oktober 2019: Alissa Frenkel, Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES)

September 2019: Carolin Schlüter, Stipendiatin des Cusanuswerks

August 2019: Pircivan Kalik, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst: Die Mischung macht es aus

Juli 2019: Yagmur Özkan und Christian Serrer, Stiftung der deutschen Wirtschaft (SDW)

Juni 2019: Mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland studieren. Ein Erfahrungsbericht von US-Amerikanerin Alex Swanson

Mai 2019: Arsdeep Kaur, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung

April 2019: Desiree Maier: Köchin - Abi - Archäologie

März 2019: Henning Dirks, Stipendiat der Studienstiftung

Februar 2019: Banu Çiçek Tülü, Heinrich-Böll-Stiftung

Januar: Michael Klipphahn, Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit September 2016. KUNSTGESCHICHTE, HfBK Hamburg

Dezember 2018: New York, New York - Mit dem RLS-Promotionskolleg in der Stadt, die niemals schläft. Ein Bericht von Sarah

November 2018: Schritt für Schritt über sich selbst hinauswachsen!

Oktober 2018: Aus dem Nähkästchen

September 2018: Ein Studienwerk, das einer zweiten Familie gleicht (ELES) 

August 2018: Gregor Christiansmeyer, Stipendiat des Cusanuswerks

Juli 2018: Evangelisches Studienwerk Villigst Ein Bericht von Bernhard Nemerth, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks

Juni 2018: Ehrenamtlich bei der Feuerwehr: Porträt unseres Stipendiaten Benedikt Schinzel von der Hochschule Furtwangen 

Mai 2018: "Ein Stipendium ist ein Privileg" Ein Beitrag von Deborah Manavi

April 2018: Beitrag von Delara Burkhardt, Friedrich-Ebert-Stiftung

März 2018: Raus aus dem Betrieb - rein in die Welt

Februar 2018: Ein Porträt der Stipendiatin der Studienstiftung Silke Seibold 

Januar 2018: „Mein Kompass: Respekt, Solidarität und Toleranz!“ von Alexander Marx, Heinrich-Böll-Stiftung 

Dezember 2017: Jana Mittelstädt, Promotionsstipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit Juli 2016 

November 2017: Bericht von Silvia: (Un)mögliche Bildung(swege)? Nichts ist unmöglich!

Oktober 2017: Werte verbinden von Markus Hadwiger

September 2017: Alumni 1.0 – Ein Einblick in das Leben danach

August 2017: ELES – ein Ort für Machloket (Streitbarkeit)

Juli 2017: "Puzzlestücke – Wie aus einem Forschungsprojekt in der Mongolei Lebensphilosophie wurde"

Juni 2017: "Bewirb dich! - auch wenn es große Hürden zu geben scheint!"

Mai 2017: "Eine Millionen mal praktische Hilfe für Geflüchtete"

April 2017: "Ein Blick über den Tellerrand"

März 2017: "Deswegen ist es gut, FES-Stipendiat_in zu sein"

Februar 2017: "Ich studiere" klang für mich ähnlich utopisch wie "Ich fliege zum Mars".

Januar 2017: "Als Botschafter setze ich mich für mehr Chancengleichheit in der Bildung ein."

Dezember 2016: „Ein vielfältiges Netzwerk aufbauen“

November 2016: „Ich wollte mich ausprobieren“

Oktober 2016: Bericht von Amina & Corinna

September 2016: Dankbarkeit – ein Bericht von Andreas Wüst

August 2016: Vom Willkommen Heißen zum Ankommen Helfen - Das Flüchtlingslotsenprojekt „Unsere Zukunft. Mit Dir!“

Juli 2016: Denkraum und Diskursmaschine 

Juni 2016: Bericht von Lucas Uhlig

Mai 2016: Als Erster in der Familie studieren? Klar, mit einem Stipendium!

April 2016: Den Geflüchteten ein Gesicht geben

März 2016: Bericht von Franziska Pflaum

Februar 2016: Einblick des Monats

Januar 2016: Einblick des Monats

Dezember 2015: 90 Jahre, 90 Köpfe

November 2015: Große und kleine Transformationen 

Oktober 2015: Universität für Flüchtlinge

September 2015: Vereinbarkeit von Studium, Ehrenamt und Familie dank der Unterstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung

August 2015: DAS JOURNALISTISCHE FÖRDERPROGRAMM DER HANNS-SEIDEL-STIFTUNG 

Juli 2015: Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen.  Eine Perspektive zweier Stipendiatinnen des Avicenna-Studienwerks 

Juni 2015: Chen Jerusalem, Alumnus des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks über sein Studium und seine Abschlussarbeit „Cover the Body with Feelings“ 

Mai 2015: Erstes Absolventenkonzert mit Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Musikerförderung des Cusanuswerks

April 2015: Mitbestimmen und über den Tellerrand schauen — das Evangelische Studienwerk ermöglicht neue Perspektiven

März 2015: Den Gründergeist schon während des Studiums entdeckt

Februar 2015: Bericht von Ronny Zimmermann, Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung

Januar 2015: Das FES-Bildungsprogramm von und für Stipendiat_innen 

Dezember 2014: Begabtenförderung der Friedrich-Naumann-Stiftung

November 2014: STUDIENSTIFTUNG ZEICHNET BESONDERES ENGAGEMENT AUS: MAXIMILIAN OEHL ERHÄLT DEN „WEITER?GEBEN!“-PREIS 2015

September 2014: Mein Weg zur Hans-Böckler-Stiftung und die Förderung der Stiftung

August 2014: Materielle und ideelle Ermöglichung zum Andersdenken mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Juli 2014: Kleine Klassen, echte Profis als Lehrer

Juni 2014: WEITER HORIZONT, ENGE GRENZEN? – Austausch ohne Grenzen in offenes Netzwerk als Teil der „Villigster Gemeinschaft“

Mai 2014: Bericht von Nina Schießl (Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk) 

April 2014: Aufbrechen zu neuen Zielen. Mit den Begabtenförderwerken in die Welt. (Bericht von Maria Dillmann, Cusanuswerk)

März 2014: muslimisch – talentiert – engagiert. Avicenna-Studienwerk startet mit der ersten Bewerbungsphase

Februar 2014: "Bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft kommen Studierende aus allen Fachrichtungen zusammen"

Januar 2014: Studieren und Promovieren mit einem Kind oder – man mag es kaum glauben - sogar mehreren Kindern? (Bericht von Helen Schmitt-Lohmann und Laura Solzbacher, Konrad-Adenauer-Stiftung)

Dezember 2013: Ein Tag aus meinem Leben als Stipi von Tina Jung, Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung

November 2013: Abschlussbericht von Olivia Güthling, Altstipendiatin der Friedrich Naumann-Stiftung

 

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Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk
Evangelisches Studienwerk e.V. Villigst
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