Ich heiße Pircivan, bin 22 Jahre alt und studiere Wirtschaftswissenschaften im sechsten Bachelorsemester an der Universität Bielefeld. Seit Beginn meines Studiums werde ich vom Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst gefördert.
Bis noch vor kurzer Zeit dachte ich beim Wort "Stipendium" an amerikanische Teenie-Filme wie "High School Musical", in denen Schülerinnnen und Schüler versuchen, zur Entdeckung ihrer Persönlichkeit ein besonderes Talent aufzubauen, sodass sie sich ein Studium leisten können. Relativ am Anfang meiner Oberstufenzeit fand an meiner Schule eine Veranstaltung zum Thema "Studiumsfinanzierung" statt, an der ich auch teilnahm. Den Begriff "BAföG" kannte ich bereits und den Begriff "Stipendium" habe ich wie gesagt immer wieder in Filmen gehört. Trotz dieser Infoveranstaltung wurde mir dieses Thema nicht greifbar genug. Meine Abiturprüfungen lagen noch viel zu weit weg, als dass ich mir jetzt auch noch Gedanken machen wollte zum Studium oder gar zur dessen Finanzierung. Dementsprechend war ich etwas sprachlos, als gerade ich kurz vor dem Ende meiner Schulzeit von meinen Lehrern vorgeschlagen wurde.
Warum ich? Was ist überhaupt ein Stipendium? Wieso hört man so wenig darüber? Ich bin doch gar nicht evangelisch? Es gibt doch auch Mitschülerinnen und Mitschüler, die bessere Noten schreiben als ich?
Diese Fragen sind durch meinen Kopf gegangen. Ich habe keine Eltern, die mir vorab diese Fragen beantworten konnten. Ich stamme aus einer alevitisch-kurdischen Familie und meine Eltern sind vor circa 30 Jahren aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland ausgewandert. Denn dort hatten sie keine positiven Zukunftsperspektiven. Sie lebten in finanziell prekären Verhältnissen und mussten dementsprechend schon nach der Grundschule die Schule wieder verlassen, um ihren Familien behilflich zu sein: Kinderarbeit.
Jahrelang mussten sie sich für ihre ethnische als auch religiöse Identität schämen und sie verleugnen. Auf beiden Ebenen gehörte meine Familie zu der großen Minderheit, welche seit Jahrzehnten verfolgt und diskriminiert wird. Kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, doch meine Eltern taten dies - nicht für sich, sondern für mich und meine beiden Geschwister. Damit wir in einem Land geboren werden, in dem Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Religionsfreiheit herrschen. Das macht mich als Sohn sehr stolz und ich werde ihnen dafür auch immer dankbar sein. Trotzdem ist mein Weg und der von vielen jungen Menschen, die ähnliche Geschichten zu erzählen haben, nicht leicht.
Unsere Lebenssituation ist geprägt von Mehrsprachigkeit, Multikulturalismus und der Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht. Häufig tragen wir eine hohe Verantwortung für unser großes Umfeld: Wir helfen unseren Verwandten, Bekannten und Nachbarn bei bürokratischen Tätigkeiten. Wir übersetzen in Gesprächsterminen für die "neuen Flüchtlinge". Wir erhalten von unseren Eltern keine wertvollen Tipps und Tricks für unseren Bildungs- oder Karriereweg, da sie selbst diesen Weg nicht gehen konnten. Und dann sollen wir den Mut finden, uns für ein Stipendium zu bewerben? Vielleicht gerade deswegen. Jeder Mensch hat Potenziale. In bestimmten Gesellschaftsschichten sind sie nur schwerer zu erkennen - aber sie sind da.
Das Evangelische Studienwerk trägt das Wort "evangelisch" im Namen und wird auch von der Evangelischen Kirche gefördert. Das bedeutet aber nicht, dass ausschließlich fromme Kirchenmitglieder gefördert werden. Es werden Menschen gesucht, die sich mit den evangelisch-christlichen Werten identifizieren können. Das sind ganz unterschiedliche Menschen, die allein sowie gemeinsam den Mut finden können, auf politischer, sozialer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene ihre Stimmen zu erheben, wenn unsere Demokratie gefährdet ist. Und mit "unserer Demokratie" ist nicht Demokratie für eine bestimmte Personengruppe gemeint. Sondern Demokratie für alle, jederzeit und überall.
Ich musste vorgeschlagen werden, um auf das Stipendium vom Evangelischen Studienwerk aufmerksam zu werden. Ich wünsche mir, dass alle jungen Menschen, insbesondere die aus den sogenannten Arbeiterfamilien, mit Migrationshintergrund oder anderen Herausforderungen den Mut finden, an sich selbst zu glauben. Ich wünsche mir, dass sie auf die Fragen, die ich mir gestellt habe und anfangs nicht beantworten konnte, selbst Antworten zu finden versuchen.
Das Stipendium bietet finanziell als auch ideell viele Förderungsmöglichkeiten und Zugang zu einem interdisziplinären Austausch mit anderen Stipendiaten über alle möglichen Themen und Sachgebiete. Es ist ein schönes Gefühl, ein Fach zu studieren, das mich interessiert. Wichtig und spannend ist es jedoch auch, das gesammelte Wissen mit anderen Menschen zu teilen und von ihnen wiederum neue Perspektiven auf die eventuell gleichen Dinge zu gewinnen. Denn nur so kann man menschlich weiter wachsen und sich eine differenzierte, tiefgründige und ausgeglichene Meinung bilden. Darüber hinaus kann ein vom Evangelischen Studienwerk gefördertes Auslandssemester zu weiteren neuen Erfahrungen führen und die Persönlichkeit noch einmal entfalten und stärken.
Die Mischung macht es aus. Oft liegt die optimale Lösung irgendwo dazwischen. Dazwischen, so wie mein Leben und das Leben vieler weiterer junger Menschen.